Iwan Sadowez

Identität geklärt

Auf dem Kriegsgräberfeld des Meßkircher Friedhofs ist der sowjetische KZ-Häftling Iwan Sadowez, Opfer eines „Todesmarsches“, begraben

75 Jahre nach Kriegsende ist die Identität der sterblichen Überreste eines auf dem Kriegsgräberfeld des Meßkircher Friedhofs Begrabenen geklärt. Hier liegt kein „Unbekannter Deutscher“, sondern der sowjetische KZ-Häftling Iwan Sadowez. Er wurde nach der Evakuierung des KZ Spaichingen auf einem sogenannten „Todesmarsch“ zwischen dem 19. und 21. April 1945 bei Meßkirch von den Wachmannschaften ermordet.

Die entscheidenden Bausteine zur Identifizierung des Toten liefern die Meßkircher Kriegsgräberliste von 1953[1], in der ein KZ-Häftling mit der Häftlingsnummer 46805 aufgeführt ist, die Häftlingsunterlagen diverser Konzentrationslager[2] und eine Transportliste mit dem Tarnnamen „Sperling“ zur Überführung von Häftlingen des KZ Buchenwald in das KZ Spaichingen [3]. Nach einem dreiviertel Jahrhundert hat nun auch die Familie Sadowez in der Ukraine Gewissheit über das Schicksal ihres Angehörigen.

Wolhynien: russisch – polnisch – sowjetisch

Iwan Sadowez wurde am 10. Januar 1921 in dem kleinen Dorf Welbiwno (polnisch: Wielbowne, russisch: Welbowno) in Wolhynien geboren.[4] Welbiwno, heute im Nordwesten der Ukrainischen Republik (Rajon Ostroh, Oblast Riwne) gelegen, weist eine bewegte Vergangenheit auf. Der Ort war 1793/95, wie ganz Wolhynien, im Zuge der zweiten und dritten Teilung Polens an Russland gefallen. Mit der Oktoberrevolution übernahmen 1917 die Bolschewiki die Macht. Ihre Herrschaft über das westliche Wolhynien sollte allerdings zunächst von kurzer Dauer sein. Die neugeschaffene Zweite Polnische Republik strebte die vollständige Restitution ihres ehemaligen Staatsgebietes an. Der Polnisch-sowjetische Krieg und der sich daran anschließende Friede von Riga am 18. März 1921 führten dazu, dass das westliche Wolhynien und damit auch Welbiwno just im Geburtsjahr von Iwan Sadowez wieder an Polen zurückfielen. Die polnische Woiwodschaft Wolhynien grenzte nun direkt an die Ukrainische Sowjetrepublik. Welbiwno blieb freilich nicht lange polnisch. Im Zuge des Geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes wurde Wolhynien 1939 von Truppen der Roten Armee besetzt und der Ukrainischen Sowjetrepublik einverleibt. Iwan Sadowez war nun Staatsbürger der UdSSR. Als gerade einmal 18-jähriger junger Mann entging er freilich noch der Rekrutierung durch die Rote Armee.

Zwangsarbeiterrekrutierung im „Reichskommissariat Ukraine“

Deutsche Wehrmachtssoldaten in Welbiwno zusammen mit zwei jungen Männern des Dorfes, 1941/42. Einer der beiden Männer in weißer Jacke ist Iwan Sadowez. Welbiwno 1941/42: Im Vordergrund zwei deutsche Wehrmachtssoldaten (Obergefreiter und Gefreiter). Im Hintergrund links höchstwahrscheinlich ein ehemaliger Soldat der Roten Armee (in sowjetischer Uniform ohne Abzeichen), der als „Hilfswilliger“ im Dienst der Wehrmacht stand. Rechts hinten zwei Männer in weißer Drillich-Jacke der Wehrmacht. Diese Jacken wurden 1940 durch olivgrüne Jacken ersetzt. Die weißen Jacken wurden wohl (ohne die entsprechende Hose) an ukrainisches Hilfspersonal der Wehrmacht abgegeben. Einer der beiden Männer in den weißen Jacken muss Iwan Sadowez sein. (© Zenia Sadowez, Welbiwno, Ukraine).

Das Schicksal nahm für Iwan Sadowez einen anderen, unvorhergesehen Lauf. Am 22. Juni 1941 begann die Deutsche Wehrmacht ihren überraschenden Überfall auf die Sowjetunion. Bereits in den Tagen danach war die Region Schauplatz einer der größten Panzerschlachten des Zweiten Weltkrieges[5]. Die siegreichen Deutschen besetzten die Region und ordneten sie dem neu gebildeten „Reichskommissariat Ukraine“ zu. Die Massaker, die direkt nach dem Einmarsch der Deutschen an der jüdischen Einwohnerschaft der Region verübt wurden, waren der Auftakt für eine Besatzungsherrschaft, die von Repression, Terror und Mord gegenüber allen Volksgruppen geprägt war. In Welbiwno zeugte die niedergebrannte Verklärungskirche von der Härte der Besatzer.[6]

Die Pläne des NS-Regimes für die neu hinzugewonnenen Gebiete waren geprägt von ideologisch bedingter Verachtung gegenüber dem vermeintlichen „slawischen Untermenschentum“. Die NS-Führung beabsichtigte, ohne jegliche Rücksicht auf die Zivilbevölkerung Nahrungsmittel aus der „Kornkammer Europas“ zu beschlagnahmen. Im Rahmen der nationalsozialistischen Lebensraum- und Germanisierungspolitik sah der „Generalplan Ost“, eine Reihe von Plänen und Planungsskizzen, das Verhungern von „zig Millionen Menschen“ vor. Für die einheimische Bevölkerung schien es keine Verwendung zu geben. Hitler selbst untersagte zunächst ausdrücklich, „russische“ Kriegsgefangene als Arbeitskräfte im Reich einzusetzen. Als im Herbst 1941 jedoch offensichtlich wurde, dass ein schneller Sieg im Osten in weite Ferne gerückt war, schwenkte das Regime um. Am 31.10.1941 genehmigte Hitler den „Großeinsatz“ sowjetischer Kriegsgefangener „für die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft“. Eine Woche später erließ Hermann Göring „Richtlinien für die Verwendung von Arbeitskräften aus der UdSSR“.

Seitdem steht die Ukraine im Fokus der deutschen Ausbeutungspolitik und wird ab 1942 zum deutschen Hauptrekrutierungsgebiet für Zwangsarbeiter.[7] 2,1 der rund drei Millionen Zwangsarbeiter aus dem besetzten Teil der Sowjetunion stammten aus der Ukraine. Am 21.3.1942 wurde als zentrale Steuerungsinstanz der Arbeitsverwaltung die „Dienststelle des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ eingerichtet, der der Gauleiter von Thüringen, Fritz Sauckel, vorstand. Dieser sollte die „massenhafte Heranbringung von Ausländern […] nach Deutschland“ organisieren und dort für deren „maximale Ausbeutung“ sorgen. Absoluter Schwerpunkt der Bemühungen der Arbeitsverwaltung war die Ukraine. Die Voraussetzungen für die Arbeiterrekrutierung schienen dort zunächst sehr günstig: Die Sowjets hatten auf ihrem Rückzug zahlreiche Industrieanlagen demontiert oder zerstört, zumindest aber unbrauchbar gemacht. Als Folge herrschte in den besetzten Ostgebieten in den Monaten nach dem deutschen Einmarsch eine hohe Arbeitslosigkeit. Deshalb war davon auszugehen, dass zunächst ohne allzu großen Druck Arbeiter für den Einsatz im Deutschen Reich angeworben werden konnten. Allerdings fanden die Meldungen nur bedingt „freiwillig“ statt: Die Menschen vor Ort litten an dem Mangel aller lebensnotwendigen Güter, an medizinischer Unterversorgung, nicht zuletzt aber auch an dem allgegenwärtiger Terror der Besatzer. Arbeitslose waren direkt vom Hungertod bedroht, sie erhielten keinerlei oder kaum Unterstützung. Viele Menschen meldeten sich zum Arbeitseinsatz in Deutschland nur, um den elenden Lebensbedingungen in ihrer Heimat zu entkommen. Für die in den besetzten Gebieten zum Arbeitseinsatz in Deutschland Rekrutierten hat sich deshalb allgemein der Begriff der „Zwangsarbeiter“ durchgesetzt.

In den Anfangsmonaten schenkten viele Ukrainer den Versprechungen der Besatzer Glauben, in Deutschland winkten ihnen gute Arbeitsbedingungen, während ihre Angehörigen zuhause ausreichend versorgt würden. 1942 wurde das „Ostarbeitersparen“ eingeführt: „Ostarbeiter“ erhielten Karten, auf die Wertmarken zu kleben waren. Sie wurden anschließend an die zuhause gebliebenen Verwandten geschickt. Die Angehörigen sollten die Hälfte des Sparbetrags abheben und in die jeweilige Währung tauschen können. Die andere Hälfte würde den Arbeitskräften nach ihrer Rückkehr ausgezahlt.

Die Werbekampagnen der Besatzer waren in den Anfangsmonaten durchaus erfolgreich. Allmählich zeigten jedoch die äußerst negativen Berichte, die von den nach Deutschland verbrachten „Ostarbeitern“ in die Heimat durchdrangen, Wirkung. Sie erzählten von mit Stacheldraht umschlossenen Arbeitslagern, von ungenügender Verpflegung, Mangel an warmer Kleidung, geringer Entlohnung, mangelnder ärztlicher Behandlung, überlangen Arbeitszeiten, Diffamierungen und Misshandlungen. Aus nichtigen Gründen wurden die ukrainischen Arbeiter hart, nicht selten sogar mit dem Tode bestraft. Die Unterstützungszahlungen für die daheimgebliebenen Familien waren in der Regel völlig unzureichend.

Um dem schwindenden Erfolg der Arbeiterrekrutierung propagandistisch entgegenzuwirken, brachten die Besatzer fingierte Briefe angeblicher Ostarbeiter, in denen das Leben in Deutschland in rosigen Farben geschildert wurde, in Umlauf. Ehemalige Ostarbeiter warben für das angeblich „schöne Leben“ in Deutschland. Dennoch meldeten sich im Laufe des Jahres 1942 immer weniger Menschen freiwillig für den Arbeitseinsatz. Bereits in der ersten Jahreshälfte des Jahres 1942 setzten die Besatzer bei der Rekrutierung der Arbeitskräfte neben der Werbekampagne deshalb zunehmend auf Zwangsrekrutierungen mit Gewalt und Terror. Ab Frühjahr 1943 fanden regelrechte „Menschenjagden“ statt, an denen deutsche Schutz- und Ordnungspolizei, Gendarmerie, Sicherheitspolizei und SD beteiligt waren. Bewaffnete Kräfte umstellten ganz Dörfer. In ihrer Verzweiflung versuchten sich immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer durch Bestechung, durch Flucht, durch Verstecken, aber auch durch Selbstverstümmelung und Selbstverletzung der Deportation zu entziehen. Bei Transporten ins Reich sprangen Verschleppte von den fahrenden Zügen, in Einzelfällen kamen weniger als die Hälfte der Zwangsrekrutierten in Deutschland an. Flucht war allerdings ein gefährliches Unternehmen, auf Flüchtende wurde rücksichtslos geschossen.

Die meisten Arbeiter aus der Ukraine wurden bis zum Sommer 1942 rekrutiert. Bis dahin ist auch Iwan Sadowez nach Deutschland gekommen[8]. Laut Auskunft der Angehörigen trat Iwan Sadowez mit vier weiteren Männern aus Welbiwno die Reise zum Arbeitseinsatz nach Deutschland an. Er sei nie mehr zurückgekehrt. Einer der fünf Männer, der den Arbeitseinsatz überlebt habe, wohne noch heute hochbetagt im Dorf Welbiwno (Stand 2020).

Mit gerade einmal 20 oder 21 Jahren teilte Iwan Sadowez das junge Alter der meisten nach Deutschland verbrachten Arbeiter. Aufgrund des eher frühen Zeitpunktes ist durchaus vorstellbar, dass sich Iwan Sadowez, ledig und ohne Kinder, freiwillig für den Arbeitseinsatz in Deutschland gemeldet hat. Die schwierige Situation in seiner Heimat muss allerdings die mögliche „Freiwilligkeit“ seines Arbeitseinsatzes deutlich relativieren.

Zwangsarbeit im Landkreis Freiberg (Sachsen), in Karlstadt (Unterfranken), Gestapo-Gefängnis Würzburg

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Zwangsarbeiter in Deutschland vorfanden, differierten teilweise erheblich. Im Allgemeinen standen sie jedoch im krassen Gegensatz zu dem von den Besatzern in der Ukraine entworfenen Propagandabild.

Alle Arbeitskräfte nichtdeutscher Volkszugehörigkeit aus dem Reichskommissariat Ukraine, galten zunächst als „Ostarbeiter“. Um sie von anderen Zwangsarbeitern unterscheiden zu können, mussten sie einen fest mit der Kleidung verbundenen Aufnäher tragen. Ukrainische Fremdarbeiter galten weder als Deutsche noch als Ausländer, sondern als „staatenlos“. Durch den sogenannten „Ostarbeitererlass“ vom 20.2.1942 wurden sie einem diskriminierenden Sonderrecht unterworfen. Zwangsarbeiter waren in geschlossenen, möglichst mit Stacheldraht umzäunten Lagern unterzubringen. Sie durften sich nicht frei bewegen, waren schlechter zu entlohnen und zu verpflegen wie Deutsche, durften keinerlei Kontakte mit Deutschen pflegen und konnten von ihren Vorgesetzten jederzeit körperlich gezüchtigt werden. Bei Widersetzlichkeiten drohte die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager, auf Geschlechtsverkehr mit Deutschen stand zwingend die Todesstrafe.

Auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Zwangsarbeiters Iwan Sadowez müssen von Not und Elend geprägt gewesen sein. Nach einem ersten Arbeitseinsatz im Landkreis Freiberg/Sachsen[9] wurde er ab dem 10. Juni 1942 dem Eisenwerk Karlstadt (Karlstadt am Main, heute Eisenwerk Düker GmbH & Co. KGaA, ca. 25 km nördlich von Würzburg) zugewiesen.[10] Bereits wenige Tage später, am 18. Juni 1942 wird er von der Gestapo-Außenstelle Würzburg[11] verhaftet und Anfang Juli der „Schutzhaft“ zugeführt. Als Haftgrund wird Diebstahl angegeben. Damit teilte Sadowez das Schicksal vieler Zwangsarbeiter im Würzburger Raum, die oft aufgrund von purer Not Nahrungsmittel entwendeten und dafür in das Würzburger Gestapo-Gefängnis in der Ottostraße bzw. ab 1. September 1942 in das Gestapo-Notgefängnis in der Friesstraße verbracht wurden.[12] Wie Iwan Sadowez befanden sich die meisten Häftlinge im Würzburger Gestapo-Gefängnis in noch jungem Alter. Sie waren vor ihrer Inhaftierung im Gastgewerbe, im Handel, in der Industrie, der Landwirtschaft und sogar in Privathaushalten beschäftigt worden, ihre Unterkunft hatten sie in Barackenlagern, Gaststätten, Turnhallen und Kasernengebäuden im gesamten Würzburger Stadtgebiet gefunden. Schon wegen geringster Verstöße wurden sie verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert. Als häufigste „Verstöße“ werden in den Gestapo-Akten genannt: Diebstahl (meist von Lebensmitteln), Widerstand gegen Arbeitgeber, „Arbeitsunlust“, Entfernen vom Arbeitsplatz und Flucht. Bei all diesen „Vergehen“, die den Zwangsarbeitern zu Recht oder Unrecht vorgeworfen wurden, muss jedoch bedacht werden, dass sich diese in einer absoluten Ausnahme-, oft Notsituation befanden.

Das „Notgefängnis“ in der Friesstraße diente als Arbeits-, Haft- und Straflager. Es handelte sich um ein Barackenlager mit simpler Holzkonstruktion, das aufgrund der stark anschwellenden Zahl an verhafteten Zwangsarbeitern aus der Ukraine, aus Polen, Frankreich, Tschechien, Holland und dem ehemaligen Jugoslawien als provisorisches Gefängnis eingerichtet worden war. Die Haftbedingungen waren menschenunwürdig. Misshandlungen und Schikanen, unzureichende Ernährung und Kleidung, ungenügende hygienische Zustände und schwerste tägliche Arbeit setzten den Häftlingen vom ersten Tag an zu. Häftlinge, die wie Iwan Sadowez aus den Gebieten östlich Polens stammten, galten als „Russen“ und sollten durch Arbeit und Mangelernährung gezielt vernichtet werden. Augenzeugen berichten, dass viele Gefangene nur noch aus „Haut und Knochen“ bestanden. Manche Gefangene verhungerten bereits im Gefängnis. Für andere Häftlinge war das Gefängnis Durchgangsstation in eines der Konzentrationslager – so auch für Iwan Sadowez.

Konzentrationslager Flossenbürg, Dachau und Buchenwald

Als weitere Stationen des Leidenswegs von Iwan Sadowez vermerken die Häftlingsunterlagen ab September 1942 das Konzentrationslager Flossenbürg[13], ab März 1943 das Konzentrationslager Dachau[14] (wo Sadowez als „Maschineneinsteller“ im BMW-Werk in München-Allach arbeitete) und schließlich ab April 1944 das KZ Buchenwald.[15] Hier erhält Sadowez die Häftlingsnummer 46805, unter der er schließlich auch als KZ-Häftling in der Gräberliste des Meßkircher Friedhofs aufgelistet wird. Die Zustände, die Sadowez im KZ Buchenwald vorfand, müssen verheerend gewesen sein. Das Lager war aufgrund der Masseneinweisungen aus den besetzten Gebieten heillos überbelegt. Mit der Evakuierung der frontnahen Konzentrationslager im Osten erhöhte sich die Zahl der Häftlinge ständig weiter. Im Februar 1945 war das KZ Buchenwald mit 112.000 Häftlingen das größte noch bestehende Konzentrationslager. Alliierte Fliegerverbände bombardierten ab Sommer 1944 die nahe gelegenen Rüstungsbetriebe, die interne Widerstandsbewegung agierte immer erfolgreicher. Die Situation im Lager war chaotisch.

Konzentrationslager Spaichingen

Vor dem Hintergrund der nahenden Kriegsniederlage vollzog sich ein Umbau des Konzentrationslagersystems, der schließlich auch Iwan Sadowez zum Verhängnis werden sollte. Die großen Konzentrationslager im Osten wurden aufgrund der heranrückenden Front evakuiert. Damit einher ging die Errichtung vieler kleiner KZ-Außenlager im Reich, so auch der Lager des „Unternehmens Wüste“ in Württemberg und Hohenzollern und des KZ Spaichingen. Ziel war eine „Verwirtschaftlichung“ des Lagersystems, die auf die Ausbeutung der Arbeitskraft der KZ-Häftlinge abzielte. Die zahlreichen KZ-Außenlager entstanden in unmittelbarer Nähe zu Rüstungsbetrieben, die aufgrund der alliierten Bombardements ausgelagert worden waren. Gleichzeitig dienten die neu eingerichteten, dezentralen Lager dazu, Häftlinge aus den Lagern im Osten und aus dem KZ Natzweiler-Struthof, das wegen der heranrückenden Front ebenfalls gefährdet war, aufzunehmen.[16] Eine ganze Reihe von Transporten aus dem KZ Buchenwald, aufgrund der Evakuierungen der Lager im Osten heillos überbelegt, erreichte nun, zwischen Dezember 1944 und März 1945, die Lager in Südwestdeutschland.[17] Unter den Häftlingen befand sich auch Iwan Sadowez.

In den Arolsen Archives wird das entscheidende Indiz zur Identifizierung von Iwan Sadowez verwahrt: Die Namensliste eines „Transport Sperling“. Es handelt sich um eine Aufstellung mit den Namen von 250 Männern, davon die Mehrzahl Juden, die zwischen dem 3./4. und dem 7./10. März 1945 vom Konzentrationslager Buchenwald in das KZ Spaichingen transportiert wurden. „Sperling“ war offensichtlich der Tarnname für das Konzentrationslager Spaichingen. Unter der laufenden Nummer 123 ist der Name Iwan Sadowez mit der Häftlingsnummer 46805 aufgeführt.[18] Die Verlegung von Iwan Sadowez findet - wohlgemerkt - zu einem Zeitpunkt statt, als die Alliierten im Westen bereits auf deutschem Reichsgebiet standen und die Niederlage nur noch eine Frage von Wochen war. Auch das Stammlager des KZ Spaichingen, Natzweiler-Struthof, war zu diesem Zeitpunkt längst befreit.

Das im September 1944 gegründete KZ Spaichingen stand in direktem Zusammenhang mit den „Metallwerken“, die sich ab Sommer 1944 in Spaichingen ansiedelten. Als Reichsbetrieb waren die nur wenige Monate zuvor in Berlin gegründeten „Metallwerke“ Ausdruck der Bemühungen des Reichsministers Albert Speer um eine Bündelung der Rüstungsindustrie im Deutschen Reich.[19] Die durchschnittlich 300 bis 400 KZ-Häftlinge in Spaichingen wurden in verschiedenen Fabrikräumen zur Herstellung von Flugzeug-Bordwaffen eingesetzt. Am Rande der Stadt hatten sie außerdem unter schwersten Bedingungen eine Halle zu errichten, die allerdings bis Kriegsende nicht fertiggestellt wurde. Überlebende berichten von verheerenden Zuständen im Lager, von unzureichender Kleidung und Nahrung, sowie von schlimmen hygienischen Bedingungen. In den letzten Monaten vor Kriegsende verschlechterte sich die Situation für die Häftlinge noch zusätzlich. Ab Januar 1945 stieg die Todesrate unter den Häftlingen deutlich an, nicht zuletzt auch aufgrund des brutalen Regiments des zweiten Spaichinger Lagerkommandanten Helmut Schnabel.

In dieser letzten Phase erreichte nun also der Transport mit Iwan Sadowez das Spaichinger Lager. Der Spaichinger Lagerarzt Dr. Ludwig Schäfer schildert im Hechinger Kriegsverbrecherprozess, dass die vom KZ Buchenwald nach Spaichingen verbrachten Häftlinge sich in einem noch schlechteren Ernährungszustand befunden hätten als die Spaichinger Häftlinge.[20]

Todesmarsch

Karte vom Todesmarsch von 1945 durch Oberschwaben
Das Vorrücken der Alliierten veranlasste die SS schließlich, die rechtsrheinischen Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof zu räumen und die Häftlinge auf sogenannten „Todesmärschen“ in Richtung der noch nicht besetzten Konzentrationslager (vor allem Dachau) bzw. der fiktiven „Alpenfestung“ zu treiben.

Vor der Evakuierung der Lager herrschte auf übergeordneter Ebene eine konfuse und chaotische Befehlslage.[21] Noch im März soll der übergeordnete Lagerleiter der „Wüste“-Lager und des KZ Spaichingen Eugen Wurth sogar versucht haben, größere Mengen an Sprengstoff und Benzin zu erhalten, um die Häftlinge allesamt zu liquidieren. Das Vorhaben misslang, die Lager sollten nun evakuiert werden.

Zahlreiche Häftlinge aus den „Wüste“-Lagern, mit denen das KZ Spaichingen als Außenlager des Lagerkomplexes Natzweiler-Struthof administrativ verbunden war, wurden vor der Lagerräumung nach Spaichingen verbracht. Am 17. und 18.4.1945 traten sie gemeinsam mit den Spaichinger Häftlingen zum Marsch an. Ca. 500 Häftlinge marschierten von Spaichingen ab, bewacht von etwa 30 SS-Männern und Soldaten. Marschiert wurde vor allem nachts. Für das Ziel des Marsches gab es wohl nur grobe Direktiven, die Häftlinge sollten „nach dem Alpenland“ transportiert werden. Die Route der Häftlinge ist inzwischen relativ genau rekonstruiert. Sie führte vom 17./18. bis 25. April 1945 über Tuttlingen, Meßkirch, Aulendorf, Waldsee, Unterschwarzach, Wurzach, Hauerz, Kempten, Lechbruck bis nach Schwanstein (Trauchgau).[22] Wieviele Häftlinge allerdings die Befreiung dort noch erlebten, lässt sich nicht genau sagen, nach Schätzungen sind 160 Menschen unterwegs gestorben.

Vor Beginn des Marsches soll der Spaichinger Lagerkommandant an die Wachmannschaften den Befehl ausgegeben haben, alle nicht mehr gehfähigen Häftlinge zu liquidieren. Tatsächlich wurden erschöpfte Häftlinge in der Regel kaltblütig erschossen oder erschlagen, die gesamte Strecke war von Leichen gesäumt. Als Todesursache konnte bei den anschließenden Kriegsverbrecherprozessen oftmals eindeutig Genickschuss festgestellt werden. Bei einzelnen Kolonnen des Marsches ging es wohl humaner zu. Teilweise wurde geduldet, dass die Zivilbevölkerung den Häftlingen Kleidung und Nahrung gab. Teilweise schauten die Wachmannschaften sogar bei der Flucht von Häftlingen einfach weg.

Eine eindrückliche Schilderung der Grausamkeit des Todesmarsches liefert Isak Wasserstein (1920-2012), der als Häftling vom KZ Bisingen nach Spaichingen verbracht worden war und sich von dort aus auf den Todesmarsch begeben musste[23]: „Wie Tiere wurden wir angetrieben. Niemand wusste, wohin es gehen sollte. Ziellos und planlos schlurften wir über Wege, durch Städte, Dörfer und Wälder. Konnte einer nicht mehr, wurde er erschossen. Zu beiden Seiten wurden wir von der SS bewacht. Jetzt hieß es durchhalten – leben oder sterben. Wir marschierten Tag und Nacht. Am Tage blieben wir für einige Stunden auf einem Feld liegen. Eine Postenkette um uns herum, damit niemand ausreißen konnte. Wir mussten in Reih und Glied marschieren, zu fünft in einer Reihe. Ging einer nicht im Gleichschritt, gab es Kolbenschläge. Wir wurden oft geschlagen. Kamen wir an Ortschaften vorbei, glotzte uns die Bevölkerung an. […] In den Augen der Menschen war die Frage zu lesen: >Wohin mit denen?< Es waren Fragen, die unbeantwortet blieben. Warum ließ man uns nicht einfach laufen? Warum erschoss man uns nicht? […] Es war ein eigenartiges Gefühl: man konnte die Freiheit beinahe mit den Händen greifen, aber ebenso sein Leben verlieren. Gingen wir nachts durch einen Wald, versuchten manche im Schutze der Dunkelheit in das Innere des Waldes zu fliehen. Die Posten schossen aber von allen Seiten, man hörte Schreie, dann Totenstille. Ich glaube kaum, dass einer der Flüchtlinge überlebt hat. […] Unterwegs gab es kaum etwas zu essen.“

Wasserstein berichtet von der Grausamkeit der Wachmannschaften, die ihn angesichts des nahenden Kriegsendes irritiert hätte: „Wäre der Krieg bald zu Ende, dann bräuchten sie uns doch nicht noch so zu quälen. Warum hörten sie damit nicht auf? […] Warum ließen sie uns nicht laufen, wenn sie die Absicht hatten, uns am Leben zu lassen?“

Wasserstein schildert eindrücklich, wie entkräftete Häftlinge, die nicht mehr weiter laufen konnten, erschossen wurden. Auch Iwan Sadowez wurde ein Opfer dieser letzten Grausamkeit der Wachmannschaften.

Ermordung bei Meßkirch

Mehrere Augenzeugen berichten, wie in den Tagen vor der Befreiung durch französische Truppen nachts Kolonnen von KZ-Häftlingen durch Meßkirch zogen.[24] Am Adlerplatz wurden die Häftlinge mit einem Teller Suppe versorgt. Der spätere Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel (1928 bis 2013) war zu diesem Zeitpunkt im RAD-Lager auf dem Gelände der Ramac-Schuhfabrik (später Bizerba/Häusler) stationiert. Er berichtet von einem „langen Elendszug, bewacht von SS-Soldaten mit Hunden.“[25] Auch Ernst Zinser aus Unteressendorf, wie Rommel im Jahr 1928 geboren, war damals im Meßkircher RAD-Lager stationiert. In einem Interview mit Hannah Matheis und Julia Späth, Schülerinnen des Leistungskurses Geschichte am Martin-Heidegger-Gymnasium, schildert er den Durchzug einer Kolonne mit „vielleicht 100 Häftlingen“, allesamt abgemagert, teilweise auf Krücken oder von anderen Häftlingen gestützt. Der erst 17-jährige Ernst Zinser schießt aus Angst vor den ausgemergelten Gestalten, die um Essen betteln, in die Luft. [26]

Meßkirch wird für Iwan Sadowez zur Endstation. Sadowez, einer jener „Buchenwalder Häftlinge“, die bereits in Spaichingen in einem besorgniserregenden Gesundheitszustand eingetroffen waren, ist nach kurzer Zeit den Strapazen des Marsches nicht mehr gewachsen. Man kann davon ausgehen, dass er, völlig erschöpft, an Ort und Stelle von den Wachmannschaften erschlagen oder erschossen wurde. Als Todesdatum gibt die Meßkircher Kriegsgräberliste den Zeitraum zwischen dem 19. und 21. April 1945 an.[27]

Ernst Zinser berichtet, wie am nächsten Tag ein Kommando aus RAD-Soldaten zusammengestellt wurde, um „in einem Wald in Richtung der Ortschaft Wald“ die in Teppiche gewickelten Leichen von KZ-Häftlingen zu verscharren und mit Reisig zu bedecken. Angesichts der nahen Front (Meßkirch wurde am 22. April 1945 von französischen Truppen befreit) war Eile geboten. Zinser, der selbst in einigen Metern Entfernung Wache schob, schätzt die Anzahl der Toten auf ungefähr sieben[28]. Er kommentiert seine Erlebnisse abschließend: „Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass man Menschen so unwürdig behandelt. Es war ein großer Schock und hat mich nie mehr losgelassen.“

Der damalige Meßkircher katholische Vikar Gustav Ernsting schildert, wie in den ersten Tagen nach der Befreiung einige Tote auf dem Friedhof hätten beigesetzt werden müssen, von denen weder Name noch Herkunft bekannt gewesen sei. Darunter habe sich auch ein KZ-Häftling befunden, „der einer Kolonne angehörte, die kurz vor der Besetzung von einem Lager in der Nähe von Oberndorf nach dem Bodensee unterwegs war. Er war am Waldrand beim Münzkreuz liegen geblieben, und sein Leichnam wurde erst nach mehreren Tagen gefunden und von uns bestattet.“[29]

Das Gräberverzeichnis des Friedhofs in Meßkirch weist den Toten als KZ-Häftling mit der Häftlingsnummer 46805 aus. Es handelt sich um Iwan Sadowez.[30]

Erinnerung an Iwan Sadowez

Schüler des Martin-Heidegger-Gymnasiums erinnern mit einem Denkmal an den Todesmarsch durch Meßkirch im Jahre 1945.

Abiturienten des Martin-Heidegger-Gymnasiums erinnern 2020 mit einem Denkmal an den Todesmarsch durch Meßkirch vor 75 Jahren. Sie stellen der Anonymität von „gesichtslosen Schatten“ und Häftlingsnummern die Namen von Häftlingen gegenüber, die auf Todesmärschen durch Oberschwaben getrieben wurden. (© Foto: Markus Fiederer)

2015, 70 Jahre nach Kriegsende, berichten Schüler des Leistungskurses Geschichte am Martin-Heidegger-Gymnasium auf einer Sonderseite des Südkuriers von den Häftlingskolonnen, die im April 1945 durch Meßkirch getrieben wurden. Fünf Jahre später regen wiederum Abiturienten des Gymnasiums mit einem großen Denkmal, das an die Ermordung von Iwan Sadowez erinnerte, zum Nachdenken an. Mit einem Gedenkstein am Grab soll sichergestellt werden, dass auch in Zukunft die Erinnerung an das an Iwan Sadowez verübte Verbrechen nicht erlischt.

Mit Iwan Sadowez ist es gelungen, ein Opfer der NS-Verbrechen der Anonymität zu entreißen. Das bewusste Erinnern an die Geschehnisse im Meßkirch im April 1945 ist ein Zeichen des Respekts gegenüber den Opfern und den Angehörigen der Ermordeten. Es ist darüber hinaus aber auch ein Akt der Selbstvergewisserung auf Werte der Menschlichkeit, die Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens sind und bleiben müssen.

Der Abiturient Pius Kempter formuliert es bei einem Erinnerungsabend, der im Zusammenhang des Themenschwerpunktes „Erinnern“ des Kreiskulturforums 2021 am Martin-Heidegger-Gymnasium stattfand, treffend: „Das genommene Leben können wir dem Häftling mit der Nummer 46805 nicht mehr zurückgeben. Aber durch den wiedergefundenen Namen können wir Iwan Sadowez einen Teil seiner Würde zurückgeben. Aus einer Nummer wird wieder ein Mensch.“[31]

Opfern einen Namen geben: Abiturienten gestalten 2020 zusammen das Denkmal am Martin-Heidegger-Gymnasium MeßkirchOpfern einen Namen geben: Abiturientin Marita Espelage gestaltet 2020 zusammen mit Nora Fivet, Lara Kühbauch, Daniel Spieß und Leonardo Weigele das Denkmal am Martin-Heidegger-Gymnasium Meßkirch. (© Foto: Markus Fiederer)